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Jean-Luc Darbellay - CONVERGENCES für Orchester - neo
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CONVERGENCES für Orchester

86 Plays
Komponist:in
Komposition, Orchester
120 tracks


Weitere Informationen

Hinzugefügt am 14 August 2019

Erstellungsjahr
2014
Label
Eigenproduktion SRG

Credits & Dank

Berner Symphonieorchester
Mario Venzago, Leitung

Konzertaufnahme: 27. November 2014, Kultur Casino, Bern (Uraufführung)
Tonmeister: Gerald Hahnefeld

Dem Wunsch von Mario Venzago, ein Stück für grosses Orchester mit Bern-Bezug zu komponieren, kam ich sehr gerne nach. CONVERGENCES ist Bern „auf den Leib geschrieben“.
„Am Anfang war das Wort...“ B-E-R-N. Unglaublich: die Töne b-e-re (d) ergeben zusammen einen transponierten, „unvollständigen Tristan-Akkord“. Mein allererstes Stück, GLANUM für 3 Bassetthörner (Altklarinetten), beginnt mit dieser Intervallkombination.
Seit 1981 komponiere ich in Bern und hatte diese Verwandtschaft nicht bemerkt! B-e-re ist, transponiert, die „Urzelle“ meiner ersten Komposition.
Der berühmte, von Wagner ganz zu Beginn seiner Oper TRISTAN gewählte 4-stimmige Akkord, ist ein musikalisch sehr interessantes Gebilde. Der Zusammenklang der „Berner-Töne“ kann in der konsonanten, tonalen Musik genau so verwendet werden, wie in der atonalen, an gespannten Intervallen reichen Musik. Die drei Töne bilden einen „accord-pivot“, eine Tonkonstellation, die mit der Dur-Terz (b-d) ein extrem wohlklingendes Intervall enthält und mit dem „gespreizten“ Tritonus (b-e), dem „Diabolus in Musica“ gemäss den alten Meistern, ein Intervall, das zwei mögliche Auflösungen in sich birgt und durch diese Ambivalenz eine Brücke zur Atonalität schlägt.
Die Tonkombination kommt in meinem Orchesterstück in stets sich wandelndem Kontext fast ubiquitär vor. Ein Leitmotiv im Wagnerschen Sinne, quasi.

Bern hat mich, als Stadt, mit ihrem Charisma, ihrer Aura und ihrem „genius loci“ schon immer fasziniert (1).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Arnold Schönberg die 12-Ton Theorie entwickelte, und Sigmund Freud die Prinzipien seiner Psychoanalyse formulierte, lebten in Bern, ohne sich zu kennen, Paul Klee, Albert Einstein, Robert Walser, Adolf Wölfli und Lenin... Kaum zu glauben. Fünf Männer, die alle in ihren Arbeitsgebieten Bahnbrechendes schufen. Stichworte wie: Wegbereiter der abstrakten Kunst, die Formel E=m.c2, mikrographisch festgehaltene, in subtilen Worten und in einem sehr persönlichen Stil formulierte Beobachtungen, „art brut“ und revolutionäre politische Theorien wurden in unserer Stadt geboren. Entdeckungen, die die Welt veränderten. In einer einzigen Generation!
Ungegenständliche Kunst, der Atomzerfall, neue literarische Dimensionen, bildliche Darstellung schizophrener Fantasien und die politische Utopie, die von den fünf „Entdeckern“ vorgestellt wurden, führten zu Folgeerscheinungen, die sie selber beobachten, und zum Teil am „eigenen Leibe“ erleben konnten.
Allen gemeinsam war, dass sie in Bezug auf die untersuchten und dargestellten Dinge Hinweise auf Kräfte beschrieben, die eine „korrekte Verzerrung“ des herkömmlichen Verständnisses der Materie im bildnerischen, literarischen, musikalischen, wissenschaftlichen und politischen Bereich verursachen können. Masse, Materie, (und damit der „Materialismus“) ist nur eine mögliche Zustandsform der Energie, gemäss Einstein. Sie kann pulverisiert werden (Atombombe!). Sprache ist nicht mehr an Mitteilung gebunden, Sprachklänge sind ebenso wichtig. Paul Klee zeichnete oft die Stadt Bern und fand die erstaunlichsten perspektivischen Modulationen. Wölfli reiste zu den Sternen, und verzerrte die Realität in seiner Malerei, in seinen Schriften und in seiner „Musik“. Aber auch Arnold Schönberg (und vor allem sein Schüler Anton Webern) verzerrten die Melodie, die Harmonik und die musikalischen Grundrhythmen, um in ganz neue Gefilde vorzustossen. Der von Schönberg vertonte geheimnisvolle Text von Stefan George deutet es an: „Ich fühle Luft von anderen Planeten“. Und Freud machte aus Träumen Realitäten, indem er psychoanalytisch den Hintergrund der nächtlichen Fantasiegebilde erforschte.

Die in Bern konvergierenden Einflüsse mit ihren, letztlich unbeschreiblichen Konsequenzen führten zu neuen Definitionen der vor hundert Jahren geltenden Gesetze.

In meinem Stück kann der „geneigte Hörer“ viele Dinge erraten, die von all diesen Gedanken, Spekulationen, Erfindungen, Träumen und Inspirationen gefärbt sind.
- Gleich zu Beginn: Klangphänomene die an das mal ganz leise, mal sehr laute, beruhigende Geräusch der Aare erinnern, das, dauernd hörbar, in meinem Turmzimmer an den Englischen Anlagen mein Komponieren begleitet. Erzeugt werden sie von der Familie der Tamtams, die sehr komplexe, sich überlagernde Klangflächen ausbreiten.
- Das Rauschen führt im Nachhall zur Tonfolge b-e-re in der tiefsten Lage der Harfe und des Klaviers. Die Geburt aus dem Wasser? Der anschliessende Einsatz des Watergongs scheint dies zu bestätigen...
- „Klee-sche“ Klänge, die sich an seine Bilder, Bildtitel (z.B. „Notturno für Horn“), Gedichte und Schriften anlehnen.
- Aggregatszustandsveränderungen der Musik können mit der Theorie der „Brown’schen Bewegung“ und der Beugung der Lichtstrahlen durch enorme Gravitationskräfte in Zusammenhang gebracht werden.
- An Walser gemahnende Klanggeräuschteppiche, die auch optisch in der Partitur auf seine Mikrogramme hinweisen.
- Wölflische Fantasiegebilde, die im Raum auftauchen, in schlangenförmigen Arabesken.
- Lenin: die Sprengkraft seiner Theorien.
- Und last, but not least, auch erkennbar, der verregnete Sommer 2014, während dem ich das Stück komponierte: das „Rainstick-Solo“!

J-L.D.

1) Freies Zitat aus dem Samstagsinterview im „Bund“ vom 30.8.2014 von Marianne Mühlemann und Brigitta Niederhauser mit Mario Venzago.

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