Der Jazzclub Moods vergibt eine Carte Blanche an die Pianistin Simone Keller, die gemeinsam mit ihrem Künstler-Kollektiv ox&öl ein Festival nach dem gleichnamigen Klavierstück der amerikanischen Komponistin Pauline Oliveros zusammengestellt hat, das während vier Tagen die Grenzen zwischen experimentellem Jazz und zeitgenössischer Neuer Musik in Frage stellen wird.
Das Festival-Konzept arbeitet zunächst mit einer recht konservativen Ausgangslagen: vier hintereinander liegende Gedenktage werden ausgewählt und mit einem passenden Musikprogramm versehen – wobei schnell klar wird, dass beispielsweise der „Man who couldn’t stop laughing“, der am „World Smile Day“ in Steven Takasugis albtraumhafter und Genregrenzen sprengender Freakshow (die sich auf Abnormitätenschauen Anfang des 20. Jahrhunderts bezieht) auftritt, weit weg davon ist, ein biederes Blumensträusschen zu einem Feiertag zu überreichen.
Zum „Weltmusiktag“ spielt Simone Keller auf vier unterschiedlich gestimmten Flügeln die Musik des Zürcher Komponisten Edu Haubensak, die dieses Jahr bei der Ruhrtriennale hätte erklingen sollen, aber coronabedingt abgesagt werden musste. Diese Ressourcen-Schlacht wird in ihrer Dekadenz durch den Auftritt des neu gegründeten „Autonomen Klavierensembles“ kontrastiert: ox&öl arbeitete über ein halbes Jahr kontinuierlich mit in Zürich lebenden geflüchteten Menschen, die alle den Wunsch geäussert haben, Klavier spielen zu lernen. Gemeinsam mit Vera Kappeler, die seit Jahren für ihre originäre Klangkunst zwischen verschiedenen Genres bekannt ist, werden sie nun an sechs Klavieren gemeinsam die radikale Musik des afroamerikanischen Komponisten Julius Eastman zur Aufführung bringen.
Der dritte Festival-Tag fällt mit dem „Tag der Deutschen Einheit“ zusammen und wird als Anlass dienen, an die Ermordung von Rosa Luxemburg zu erinnern. Die Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji, der Posaunist Michael Flury und die Pianistin Simone Keller zeigen eine eigenwillige Hommage an die grosse Politikerin, indem sie ihre Texte mit der gewaltsamen Musik der russischen Komponistin Galina Ustwolskaja kombinieren, ganz fein verwoben mit zartesten Erinnerungen an die bildungsbürgerliche Musik, die Rosa Luxemburg geprägt hat und die sie in ihren Schriften erwähnt hatte: Bach, Beethoven, Schubert… Anschliessend erzeugen Simone Keller und Martin Lorenz mit modularen Synthesizern eine ganz eigene anachronistische Club-Ästhetik.
Der Abschlusstag wird im Zeichen des Welttierschutztages und gleichzeitig des Erntedankfestes stehen. 2019 hat ox&öl bereits zum ersten Mal das Format „Schni-po-sa – Schnittige politische Salonmusik“ lanciert, das hier weitergeführt wird. Simone Keller wird zwei neue grosse Klavierstücke mit Elektronik von Jessie Marino und Lara Stanić uraufführen und darum herum ein sehr reichhaltiges Programm mit vielfältigen Gästen präsentieren. Jessie Marino wird beispielsweise nicht nur als Komponistin, sondern auch als Performerin in ihrem neuen Stück „The Inversion“ im Duo mit der Australierin Jessica Aszodi zu erleben sein, ausserdem treten die beiden Zürcher Formationen Retro Disco und Kukuruz Quartett auf, die Zürcher Komponistin und Klangkünstlerin Cathy van Eck ist zum ersten Mal im Duo mit Jessie Marino zu erleben und der Kontrabassist Aleksander Gabryś spielt nicht nur ein fulminantes Solo-Stück auf zwei Kontrabässen gleichzeitig, das sein Vater für ihn komponiert hat, sondern wird auch eine Einrichtung des titelgebenden Stückes „Breaking Boundaries“ von Pauline Oliveros für vier Akkordeons vornehmen, die er gemeinsam mit den vier PianistInnen des Kukuruz Quartett uraufführen wird.
Das Festival „Breaking Boundaries“ präsentiert also eine grosse Bandbreite an zeitgenössischer Musik und hierbei insbesondere auch Aussenseiter-Positionen sowie Musik, die oft ästhetisch zwischen Stuhl und Bank fällt, weil sie nicht so einfach schubladisiert werden kann. „Breaking Boundaries“ versteht sich als „Volksfest“ (inklusive vom Cellisten Moritz Müllenbach live frittierter Pommes), das niederschwelligen Zugang zu Neuer Musik bietet und also als ein Plädoyer für mehr Diversität in der bisweilen elitären zeitgenössischen Musik.
Donnerstag, 1.10. 2020: World Music Day – VERÄNDERTE LUFT
19.30h: Simone Keller spielt auf vier verschieden gestimmten Flügeln
Edu Haubensak (*1954): „Veränderte Luft“ (1998), „Pur“ (2004/2005), „Collection II“ (2014), „Spazio“ (1993/94)
20.45h: Das „Autonome Klavierensemble“ spielt auf sechs Klavieren sein allererstes Konzert. Es besteht aus jungen Menschen mit einer Fluchtgeschichte und Schweizer PianistInnen.
Julius Eastman (*1940): „Evil N****r“ (1979)
Mit Lhakpa Dolmatsang, Vera Kappeler, Simone Keller, Amine Diaré Conde, Filmon Mengs, Philip Bartels
21.30h: Kappeler – Zumthor
Mit Vera Kappeler (Klavier) und Peter Conradin Zumthor (Schlagzeug)
Freitag, 2.10.: World Smile Day – THE MAN WHO COULDN’T STOP LAUGHING
20h: Steven Takasugi (*1960) Musiktheater „Sideshow“ (2009-2015/2019)
for amplified quintet and electronic playback in five movements
Text: Karl Kraus
Mit dem ENSEMBLE TZARA: Martin Sonderegger (Klarinette), Christoph Luchsinger (Trompete), Samuel Stoll (Horn), Aleksander Gabryś (Kontrabass), Simone Keller (Klavier), Moritz Müllenbach (Tontechnik)
Szenische Einstudierung: Philip Bartels
21.30h: Modular Live-Set feat. Blähton mit Moritz Müllenbach und Gästen
Samstag, 3.10.2020: Tag der Deutschen Einheit – WELTKLAVIER
20h: „Mit allen zehn Fingern dem Weltklavier in die Tasten fallen, dass es dröhnt.“ –
Eine Hommage an Rosa Luxemburg (*1871 – 1919) und Galina Ustwolskaja (*1919 – 2006)
Mit Melinda Nadj Abonji (Stimme), Simone Keller (Klavier), Michael Flury (Posaune)
21.30h: Martin Lorenz (*1974): „OSCILLATIONS V“ für Modular-Synthesizer und Live-Elektronik (2018/2020, UA)
Mit Simone Keller (Modular-Synthesizer) und Martin Lorenz (Live-Elektronik)
Sonntag, 4.10.2020: Erntedankfest/Welttierschutztag – SCHNIPOSA
SCHNIttige POlitische SAlonmusik
16h: Freedom of speech and expression
- Lara Stanić (*1973): „Fantasia“ für Klavier solo und Elektronik (2020, UA)
- Cathy van Eck (*1979) / Jessie Marino (*1984): „an improvised flying V“ (2020, UA)
- Niklas Seidl (*1983): „Tierversuche 3“ für drei Performer (2014)
17:30h: Freedom of worship
- Jessie Marino (*1984): „Slender Threads“ for piano solo and electronics (2020, UA)
- Manuel Zwerger (*1992): „Gedärme“ für hyper-präpariertes Horn (2020)
- Jérôme Bel / Jessie Marino (*1964 / *1984): „Shirtology“ für zwei Performer (1997/2019)
- Stephen Crowe (*1979): „Tenvelopes” für Horn solo und Zuspielung (2010/2020, UA)
19h: Freedom from want
- Jessie Marino (*1984) / Jessica Aszodi: „The Inversion“ (2020, UA)
20:30h: Freedom from fear
- Ryszard Gabryś (*1942): „Alexandriner“ für einen Performer mit zwei Kontrabässen (2003)
- Pauline Oliveros (1932-2016): „Breaking Boundaries“ (1996) in einer Einrichtung für vier Akkordeons und zwei Kontrabässe von Aleksander Gabryś (2020, UA)
- Julius Eastman (1940-1990): „Gay Guerrilla” für vier Klaviere (1979)
Dazwischen frittiert Moritz Müllenbach live.
Mit Simone Keller (Klavier), Jessica Aszodi, Cathy van Eck und Jessie Marino (Performance), Aleksander Gabryś (Kontrabass und musikalische Leitung „Breaking Boundaries“), Trio Retro Disco: Simone Keller (Tasten), Moritz Müllenbach (Fritteuse), Samuel Stoll (Horn) und dem Kukuruz Quartett: Philip Bartels, Duri Collenberg, Simone Keller und Lukas Rickli (4 Akkordeons und 4 Klaviere), Samuel Dunscombe (technical director „The Inversion“)
Tontechnische Leitung: Willy Strehler